Kulturaustausch gibt Vorsprung

Beispiel Architektur

Wenn der durchschnittliche türkischstämmige Muslim an die Architektur osmanischer Moscheen denkt, meint er oftmals, das sei typisch muslimische Architektur. Wer sich jedoch Moscheen in Ägypten oder Marokko ansieht, erkennt schnell, dass es DIE muslimische Architektur nicht gibt. Kulturelle Einflüsse der jeweiligen Region spielten eine maßgebliche Rolle dabei, wie Moscheen architektiert wurden. So ist denn unverkennbar, dass die Architektur der Hagia Sophia die osmanischen Architekten inspirierte, die wir als klassisch Osmanisch bezeichnen. 

Blicken wir ins 19. Jahrhundert finden wir, dass zahlreiche Moscheen der Osmanen „unosmanischer“ wurden. Nicht bloß die Yildiz-Moschee des Kalifen Sultan Abdulhamid II., bereits der Dolmabahce-Palast, der von seinem Vater, Kalif Sultan Abdulmecid in Auftrag gegeben wurde, gleicht nicht mehr dem vorherigen Regierungssitz, dem Topkapi-Palast von 1468. Von einem osmanischen Christen, einem Armenier architektiert, enthält sie barocke und neu-gotische Einflüsse. Die armenische Balyan-Familie war im 19. Jahrhundert der Liebling der Sultane. Sei es der Touristenmagnet, die Ortaköy-Moschee, auch große Mecidiyye genannt, oder die kleine Mecidiyye, in der Kalif Abdulmecid hohe Gäste unterbrachte und persönlich Bürger des Reiches empfing. Diese Bauwerke sind das Produkt dessen, was wir kulturellen Austausch nennen. Ein Europäer, der sich in diese Moschee begibt, wähnt sich in einer europäischen Moschee und liegt damit richtig. Sie befinden sich auf der europäischen Seite Istanbuls. Bordüren im Stil des Rokoko zieren die die Betenden umhüllenden Wände und Decken. Mal sieht der Gläubige die acht Paradiestore unter der Kuppel, was an die Kunst der Renaissance erinnert, mal Muster, die an einen Garten erinnern und mal einen Sternenhimmel.

Die Ästhetik der Istanbuler Moscheen des 19. Jahrhunderts ist das Produkt eines kulturellen Austausches und wer sie sieht, wundert sich darüber, warum den Muslimen in Europa und Deutschland nicht die Idee kam, die ansehnliche Symbiose von Orient und Abendland auch hier erfahrbar zu machen. Osmanen taten es bereits. Sie ließen sich inspirieren, nahmen auf, fügten das Eigene hinzu. Es scheint als hörten sie den Ruf Friedrich Hölderlins:

Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht, 
Aufzubrechen. So komm! dass wir das Offene schauen,
Dass ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.

Das Eigene. So eigen ist es gar nicht. Was wir Osmanisch nennen, ist es nicht ein von Muslimen fruchtbar gemachtes Byzanz? Was wir im 19. Jahrhundert als Osmanisch bezeichnen, ist es nicht ein fruchtbar gemachtes Europa? Und auch umgekehrt: Woher kommt in Europa die Ottomane, woher das türkische Zimmer? Wo sahen europäische Denker einen Ausdruck von Religionsfreiheit? Eine Gesellschaft ohne Ständeordnung? 

Warum kam Deutschland zu spät?

Ähnliche Fragen stellte sich auch Johann G. Herder: Dass der „Mensch sich selbst auf den Weg der Kultur gebracht und ohne höhere Anleitung sich Sprache und die erste Wissenschaft erfunden“, das scheint ihm unerklärlich. Herder war bewusst, jede Gesellschaft steht unter dem Einfluss des Klimas, das vorherrscht, den Nachbarn, die es umgibt, und der Geographie: Grenzt das eigene Land an ein Meer? Welche Schätze birgt der Boden? Gibt es Berge, Seen, Flüsse? 

Wenn der Einfluss nicht für das Auge direkt sichtbar ist, wie in der Architektur, dann bedarf es genauer Beobachtung und scharfsinnigen Denkvermögens, um die Einflüsse zu erkennen. Johann G. Herder lebte zu einer Zeit in der an deutschen Höfen Französisches präsent war. Herder schreibt: „Aus der Geschichte der Menschheit ist’s unleugbar, dass, wo sich irgendein Land zu einem vorzüglichen Grad der Kultur erhob es auch auf einen Kreis seiner Nachbarn gewirkt habe.“ Wie kam es, dass Frankreich ein Paris ausbildete, in deutschen Landen die Wissenschaften und schöngeistige Literatur jedoch brach lagen? Wie kam es, dass die europäischen Nationen auf den Weiten der Meere segelten, Deutschland jedoch noch nicht einmal geeint war?

Spanien, Portugal, Italien, England, Frankreich – Frankreich als direkter Nachbar kultivierte durch seinen Einfluss Deutschland. Doch bevor es sich im kulturellen Austausch als Geber bezeigen konnte, musste Frankreich als Nehmer seinen eignen Stand der kulturellen Bildung heben. So auch Spanien. Wir wissen heute welchen Einfluss Muslime auf Europa hatten. Herder leitete es bereits damals aus der Poesie ab. Er sah den muslimischen Einfluss in der spanischen und italienischen Literatur und schlussfolgerte daraus, dass das Voranschreiten Spaniens und Italiens vor allen anderen europäischen Nationen, dadurch begründet ist, dass in diesen beiden Nationen eine „morgenländische Invasion“ im Bereich der Literatur stattfand. Das Mittelmeer spielt hier eine große Rolle. Es verbindet. Deutschland liegt nicht am Mittelmeer. Es ist durch die Ostsee mit dem nordischen Baltikum verbunden.

Austausch: Vom Nehmer zum Geber

Durch das Überqueren des Mittelmeeres kommt es, dass damals die arabischen Muslime „Licht“, wie es Herder nennt, und „die erste Aufklärung“ nach Europa brachten. Spätestens seit Prof. Dr. Fuat Sezgin wissen wir, dass Frankreich und England von Spanien profitierten – und Deutschland eben von Frankreich, als Nachzögling. Hier geschah jedoch das, was Europa der Welt unsympathisch machte: Europa leugnete lange Zeit, und tut es bis heute zum Teil noch immer, seine Lehrer. Der türkische Dichter und Denker Sezai Karakoc sagt in den 1960er Jahren dazu, dass Europa höchst undankbar ist. Europa tat, was niemand sonst bis dahin tat. Die Römer lernten von Griechen, die arabischen Muslime von Römern und Griechen; Europa jedoch überspringt die Muslime, bagatellisiert ihre Leistungen und meint bei Griechen und Römern anzuknüpfen. Europa leugnet, mit wem es im kulturellen Austausch stand. Jedoch Herder, der Deutsche, leugnet es nicht. Denn er sucht eine Erklärung dafür, warum die anderen europäischen Nationen einen Vorsprung haben.

So erklärt sich, weshalb sich bei den Deutschen positive Assoziationen mit Muhammed, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, finden. Während Dante den Muhammed-Hass mitbegründet; Cervantes ihn im Don Quijote als Lügner bezeichnet; Voltaire den Namen Muhammeds benutzt, um eigentlich mit der Kirche abzurechnen; sind es die Deutschen Klassiker, die den Namen Muhammed positiv besetzen. Goethe sagt, er habe ihn nie als Betrüger angesehen, sondern als jemanden, der die Kulturstufe seines Volkes hob. Ein Genie, das zweckmäßig gewirkt habe. Die deutschen Romantiker jedoch idolisierten Dante und brachten die Barbarei im Umgang mit Muhammed auch in das Deutsche, was Herder und Goethe zu überwinden suchten. In einem Vierzeiler beschreibt Goethe poetisch, was Herder prosaisch schreibt:

Herrlich ist der Orient
Übers Mittelmeer gedrungen;
Nur wer Hafis [den Orient] liebt und kennt,
Weiß, was Calderon [das Abendland] gesungen.

Deutschland wurde von anderen europäischen Nationen kultiviert, die vorher von Muslimen kultiviert wurden. Al-Kindi (gest.873), ein muslimischer Denker, schrieb: „Wir dürfen nicht zögern, die Wahrheit anzuerkennen und sie zu akzeptieren, gleich welchen Ursprungs sie ist, gleich ob sie von den Alten [d.h. den Griechen] oder von fremden Völkern stammt.“ Die arabischen Muslime leugneten nicht. Wo ein Volk Größe erlangt, erlangt es sie, weil es Einfluss zulässt. Im Bereich Theater ließen sich die Araber jedoch nicht beeinflussen. Sie blieben bei Poesie, Philosophie, Medizin, Chemie, Physik, Astronomie, Architektur und was noch. Europa ließ kulturellen Austausch zu, nahm mehr als es gab, und wurde Jahrhunderte später selbst zum Geber. Und da wären wir wieder bei den Moscheen Istanbuls.

Das heutige Deutschland

Wie kann ein fruchtbarer Kulturaustausch im heutigen Deutschland aussehen? So wie erst Muslime und dann von diesen lernend Christen sich die Griechen zu eigen machten, ohne wirklich an ihre Mythologie zu glauben, so wie europäische Aufklärer Al-Ghazali und Rumi lasen, ohne ihren Glauben anzunehmen, so können heutige Muslime Herder, Schiller, Goethe, Novalis, Schlegel, Heine, Lessing oder Rilke lesen, ohne ihr Christentum oder ihren Deismus anzunehmen. Der von mir verfasste und neu erschienene „deutsche Diwan“ ist eine Form des praktizierten Kulturaustausches. Goethe und andere Größen werden sich zu eigen gemacht, so wie Goethe sich Hafis, Rumi und andere Größen zu eigen machte und dadurch die deutsche Kultur bereicherte.

Wir müssen aufhören uns als losgelöst von der Vergangenheit zu betrachten und Traditionen kennenlernen – Traditionen in der Literatur und Architektur. Wir sind in Deutschland. Was kann ein Poet in Deutschland besingen? Welche Berge und Flüsse sind hier? Wüsten werden wir nicht finden, doch dafür Wälder! Schiller schrieb Dramen, die Fürsten wie Wallenstein aufgriffen, wieso schreibt niemand Dramen und greift auf Deutsch einen osmanischen Sultan auf? Dafür ist Wissen nötig über Struktur und Aufbau eines Dramas, Figurengestaltung und -konstellation. So wie Herder und Schlegel sich Spanisches, Englisches, Italienisches in ihre Kultur übersetzten, so können Muslime aus dem unermesslichen Schatz der muslimischen Geistesgeschichte in die deutsche Kultur übersetzen. 

Alle sind daran interessiert theologische Werke zu schreiben. Bücher über Aqida, islamische Gottesdienste oder Edep (Anstand). Feriduddin Attar und Rumi schrieben auf Persisch Gesänge und vermittelten in diesen Gesängen Islam. Wieso vermittelt niemand in einen Roman verwoben die muslimischen Inhalte? Das ist die ursprüngliche Idee der Romantik gewesen: Theologe, Literat und Philosoph in einer Person sein. Wo bleiben die Moscheen mit Zierraten aus Orient und Abendland wie in Istanbul? Wie können wir erneut „Licht“ bringen? Das ist die Frage der Zeit.

Wo ist ein Übersetzer, der zugleich Philosoph, Dichter und Philologe ist: er soll der Morgenstern einer neuen Epoche in unsrer Literatur sein!

Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur Bd. 2

(Dieser Artikel erschien in der 333. Ausgabe (März 2023) der Islamischen Zeitung.)

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