Schiller-Essay (4): Schiller, die Zeit und der Tod

Als Friedrich Schiller starb, sagte Johann W. Goethe: „Ich dachte mich selbst zu verlieren, und verliere nun einen Freund und in demselben die Hälfte meines Daseins.“ Die Frage, die sich mir stellte beim Lesen dieser Worte: „Was muss Schiller für ein Mensch gewesen sein?“ Wilhelm von Humboldt nannte die Jahre mit Schiller das „Bildungsereignis“ seines Lebens. Der junge Novalis sagte, er würde gerne seine Lebensjahre hingeben, wenn dadurch Schiller Lebensjahre gewinnen würde. Vielleicht ist es geschehen. Er starb wesentlich jünger vor ihm.

Friedrich Schiller starb im Alter von 44 Jahren. Sein Leben ist geprägt von Aufbegehren, Flucht, Geldsorgen und Krankheit. Sein Leben lang hörte er sich an, ob es denn die richtige Zeit sei, um sich so sehr auf die Kunst einzulassen, ja so unpolitisch zu sein. Die Frage hat etwas Höhnisches. Der Mann, der fühlte, dass der Tod nichts Fernes und Fremdes ist, muss sich anhören, dass er sich mit wichtigeren Dingen beschäftigen solle. Es hat sich bis heute nichts verändert.

Weil er dem Tod so nahe war, weil ihm seine Geburt gesellschaftlich nicht den höchsten Rang gab, erarbeitete Schiller sich alles, was er war und als der er uns heute in Erinnerung ist. Schiller wartet nicht auf die Stimmung, er versetzt sich in die richtige Stimmung, um auszuführen, was er als nützlich und schön erachtet. In seiner „Maria Stuart“ heißt es: „Wie sehr auch Euer Innres widerstrebe, / Gehorcht der Zeit und dem Gesetz der Stunde.“

Schiller ist ein Muster der Romantiker

Schiller lebte, was er schrieb. Wenn die Romantiker von praktischer Poesie sprechen, so haben sie Schiller und Goethe vor Augen. Es kommt nicht darauf an, nur ein paar schöne Verse zu machen, es kommt darauf an, schön zu leben, Poesie teilhaben zu lassen am praktischen Leben. Das ist Schiller. Deshalb wird der sonst im Ausdruck sehr nüchterne Novalis schwärmerisch, wenn er über Schiller spricht. Was heißt es, der Zeit zu gehorchen und dem Gesetz der Stunde?

Es bedeutet die Gesellschaft zu beobachten, ihren Zustand zu analysieren und der Gesellschaft das anzubieten, was sie auf einen höheren Grad der Kultur befördert. Das war das große Projekt der Viergestirns von Weimar. Dies versuchten sie mittels Poesie und Theater. Goethe sagt in seinen Gesprächen mit Eckermann, dass ein Autor nur einen großartigen Charakter haben muss, dann werde er gut schreiben. Wenn er also Schiller hochlobt für seinen Charakter, dann sagt er uns über Schiller, warum dieser ein so großer Autor war. Goethe sagt über Schillers Charakter:

„Alle acht Tage war er ein Anderer und ein Vollendeterer; jedesmal wenn ich ihn wiedersah, erschien er mir vorgeschritten in Belesenheit, Gelehrsamkeit und Urteil.“

DAS ist Schiller. Manchmal fragen mich junge Menschen, warum sie früher aufstehen sollten, was sie mit mehr Zeit anfangen sollten. Nun die Antwort ist auf der Hand: Früh aufzustehen bildet den Charakter. Früh aufgestanden kann ein Buch gelesen, ein Spaziergang gemacht werden. Wenn ich keine Lust habe, dann zwinge ich mich Herrgott nochmal dazu ein Buch zu lesen, zu spazieren. Ich lese Etwas, das absolut unabhängig ist von den alltäglichen Nachrichten und Zeitungen; das heißt seinem Geist Nahrung zuführen. Wenn ich das nicht tue, wenn ich nur Zeitungen lese und das tue, was alle anderen tun, bin ich, ob ich will oder nicht, nur ein durchschnittlicher Mensch. Schiller war erbarmungslos mit durchschnittlichen Menschen. Dazu schreibt er an seinen guten Freund Körner:

„Weniger bin ich, was das Vorliebnehmen mit mittelmäßigen Menschen betrifft, Deiner Meinung. Mittelmäßiger Umgang schadet mehr, als die schönste Gegend und die geschmackvollste Bildergalerie wieder gut machen können; auch mittelmäßige Menschen wirken; ein andermal mehr davon.“

Schiller gleicht im Handeln einem Muslim

Die Zeit ist zu kostbar, um sich mit Menschen zu umgeben, die einem das wertvollste Gut stehlen: die Zeit. Wie kommt Schiller dazu? Ist das arrogant, ja überheblich? Nein, ist es nicht. Er wusste aufgrund seiner ständigen Krankheiten, wie wertvoll die Zeit ist, wie kostbar Gesundheit ist. Aus diesem Grund will er sie nicht verschwenden. Ich frage alle MuslimInnen Deutschlands und der Welt: Meint unser Prophet Muhammed, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, nicht eben diesen gewissenhaften Umgang mit der Zeit und der Gesundheit, wenn er sagt: „Es gibt zwei Dinge, die von den meisten Menschen nicht gebührend geschätzt werden: Die Gesundheit und Zeit.“

Schiller wusste sowohl Gesundheit als auch Zeit zu schätzen, denn sie liefen ihm davon. Der Tod war eine zentrale Realität in seinem Leben. Der Tod war ihm nichts Fremdes.

„Rasch tritt der Tod den Menschen an,
Es ist ihm keine Frist gegeben,
Es stürzt ihn mitten in der Bahn,
Es reißt ihn fort vom vollen Leben,
Bereitet oder nicht, zu gehen,
Er muss vor seinen Richter stehen!“

Das sind die Worte eines Mannes, der das Plötzliche des Todes fühlte, der schon öfter im Krankenbett lag, ungewiss darüber, ob er den nächsten Tag erlebt.

Und wieder an alle MuslimInnen: Sagte nicht unser Prophet Muhammed, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, dass wir beständig an den Tod denken sollen? – Ja, das sagte er und unser deutscher Fürst, unser Friedrich Schiller, er tat es. Ich bin, wie Novalis, stolz darauf, dass Schiller ein Deutscher war. Nein, er war dem Glauben nach kein Muslim. Aber dem Verhalten nach war er ein besserer Muslim als ich es bisher je war.

Schiller wandte sich, in Erinnerung daran wie kostbar die Zeit ist, von unnötigen Themen und Beschäftigungen ab. Dinge, die ihn als Menschen und die Gesellschaft als Ganzes nicht weiterbrachten, von denen wandte er sich ab. Die Erziehung des Menschen und mithin der Gesellschaft, das war der große Zweck seines Wirkens und Schaffens. Die Romantiker á la Novalis sprachen davon, dem Gewöhnlichen den Anschein des Außergewöhnlichen geben zu wollen, nun: Schiller tat es! Sie hatten Schiller und Goethe vor sich und deshalb schrieben sie so. Wir wissen es durch Goethe:

„Nichts geniert ihn, nichts engt ihn ein, nichts zieht den Flug seiner Gedanken herab; was in ihm von großen Ansichten lebt, geht immer frei heraus ohne Rücksicht und ohne Bedenken.“ Und Goethe beschreibt, was uns im Gegensatz zu Schiller abhält: „Wir Andern dagegen fühlen uns immer bedingt … durch tausend Rücksichten paralysiert, kommen wir nicht dazu, was etwa Großes in unserer Natur sein möchte, frei auszulassen. Wir sind die Sklaven der Gegenstände.“

Das heißt, wir fürchten uns, uns den Gedanken hinzugeben, die uns von Engeln inspiriert werden. Gute Ideen, so lehrt Muhammed, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, werden von Engeln inspiriert, wenn wir nur offen für sie sind und den Mut besitzen, uns ihnen hinzugeben. Viele von uns fürchten sich. Sie fürchten sich davor als „Schwärmer“ bezeichnet zu werden, als „Romantiker“, als „Träumer“. Wie anders war da Schiller! Immer den nächsten Schritt, der auf die Ausführung wartet, im Sinn, hing sein Herz dem Ideal an, auf das er, am Ende aller Schritte hinaus wollte. Wenn jemand seinen Lauf störte, konnte er zuweilen grob sein. Und wer will es Schiller verargen? Er, der sich für die Getretenen der Gesellschaft einsetzt, indem er den Willen Verstoßenen zu helfen und mit ihnen zu sein, Millionen Menschen einhaucht. Seine Zeit ist zu kostbar, was jedoch nicht jeder bedenkt. Was grob erscheint, ist bloß der verletzte Stolz derer, die ihn nicht begreifen. Sagt Allah, der Erhabene, nicht im Koran, dass der Prophet aus Höflichkeit nicht direkt sagt, dass es ihn stört, wenn andere bei ihm ein- und ausgehen? Sagt Allah, der Stolze, nicht, dass Er sich nicht schämt, die Wahrheit zu sagen, wenn Er den Vers offenbart, der die Gefährten mahnt, nicht willkürlich beim Propheten ein- und auszugehen? Die Zeit ist zu kostbar.

Für die Gesellschaft tätige Menschen, die ihre Zeit, wenn sie alleine sind, nicht verschwenden, genießen Rechte, die andere nicht besitzen. Das klingt ungerecht, doch es ist egoistisch von Menschen zu verlangen, dass ein Tätiger seine Zeit für andere opfert, obwohl in dieser Zeit ein großes Werk für die Allgemeinheit würde entstehen können. Das müssen die MuslimInnen Deutschlands begreifen. Die Zeit eines manchen ist kostbarer als die anderer. Deshalb wünschte sich Novalis von seinen Lebensjahren Schiller abzugeben. Sind wir MuslimInnen nicht so weise wie Novalis? Was fehlt uns?

Die kostbarsten Güter des Lebens

Gesundheit und Zeit. Das sind die kostbarsten Güter. Wertvoller als ein eigenes Haus, wertvoller als ein Mercedes, ein Tesla… es gibt muslimische Dichter und Denker, sie spitzten ihre Stifte immer dann an, wenn sie Besuch hatten, damit die Zeit der stumpfen Gespräche mit den Gästen nicht ganz verschwendet ist.

Bedenke deine Zeit, o Mensch,
Gib acht auf sie und halt sie wert,
Bedenke, auch wenn du sie selbst nicht schätzt,
Dass du das Zeitgefühl der andern nicht verletzt,
Dies ist es, was uns die Geschichte lehrt.

Rüdiger Safranski schrieb eine Biographie über Schiller. Die sei allen jungen MuslimInnen und allen Menschen, die die Kostbarkeit ihrer Lebenszeit fühlen möchten, empfohlen. Der falsche Freund, der falsche Partner, die falsche Partnerin, sie rauben einem das kostbarste, das es im Leben gibt: die Zeit. „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, / Ob sich das Herz zum Herzen findet.“

Als Goethes Schwiegertochter einmal sagte, Schiller sei langweilig, antwortete Goethe: „Ihr seid viel zu armselig und irdisch für ihn!“ Ist das eine Überhöhung oder die angemessene Würdigung eines Menschen, der dazu verhilft, das andere über sich selbst hinauswachsen? Schillers Charakter wie sein Werk, in denen sein Charakter steckt, wirken erhebend. Erhebend. Wer mit diesem Wort nichts anfangen kann, der wird auch nichts von der Kostbarkeit der Zeit verstehen…

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