Im Jahr 1755 ereignete sich ein Erdbeben in Lissabon, das nicht wenige Menschen in Europa dazu veranlasste an Gottes Barmherzigkeit zu zweifeln. Die höchste Spitze findet sich wohl bei Voltaire, der davon überzeugt war, dass die Geschehnisse auf der Welt Gott völlig gleichgültig seien. Auch Goethe wurde als Kind, damals 6 Jahre alt, vom Erdbeben in Lissabon erschüttert und fragte sich, wie solch ein schreckliches Ereignis in Einklang zu bringen sei mit Gott. Theodizee nennt sich diese Problematik unter Christen. In meiner Rolle als Muslim habe ich mir die Frage nach Barmherzigkeit Gottes nie gestellt, weil ich als Muslim glaube, dass er definitiv immer barmherzig ist. Die Frage der Theodizee deutet auf einen der größten Unterschiede zwischen Christen und Muslimen. Christen rühmten mir ihre Vorstellung von Gott mehr als einmal als die barmherzigere. Beispielsweise muss der Prophet Abraham kein Messer an seinen Sohn anlegen gemäß Bibel. Im Koran heißt es, das Messer wurde angelegt, doch Gott entzog dem Messer die Beschaffenheit zu schneiden. Die Prüfung ist eine größere.
Kein Problem der Theodizee
Das ist sinnbildlich für den Unterschied christlicher und muslimischer Geistesgeschichte. Ein Erdbeben führt mich als Muslim nicht wie Christen 1755 dazu an Allahs Barmherzigkeit zu zweifeln, es bestärkt muslimische Gläubige in ihrem Glauben. Im Koran heißt es: „Und wahrlich, Wir werden euch mit Furcht prüfen sowie mit Hunger und Verlust an Besitz und Menschenleben und Früchten; doch verkünde den Standhaften Heil.“ (Sure al-Bakara, 2/155) Und Gott sagt im Koran: „Meinen die Menschen, dass sie in Ruhe gelassen werden, nur weil sie sagen: »Wir glauben«, ohne dass sie geprüft werden?“ (Sure al-Ankebut, 29/2) Die Prüfung findet statt, um deutlich zu machen, wer dem Menschsein größere Ehre machte: „Segensreich ist Der, in Dessen Hand die Herrschaft ist und Der Macht hat über alle Dinge; Der Tod und Leben schuf, um zu prüfen, wer von euch am besten handelt. Und Er ist der Erhabene, der Verzeihende.“ (Sure al-Mulk, 67/1f)
Die Akzeptanz des göttlichen Willens ist absolut. Was schön scheint, ist von Gott, was schrecklich scheint, ist von Gott. Der Mensch ist Gott untergeordnet. Er ist Gottes Knecht. Immer. Daraus leiten manche Denker Ohnmacht ab, doch der Mensch, er ist nicht ohnmächtig. Nach Wissen zu streben, Erkenntnis zu kosten, ist keine Sünde. Betrachten wir die muslimische Geistesgeschichte. Die Forschung begann in muslimischer Geistesgeschichte gerade mit der Akzeptanz des Islams. Der Koran war keine Schrift, die bloß vom Klerus gelesen werden konnte. Schon zur Zeit des muslimischen al-Andalus waren über 95% der Bevölkerung alphabetisiert. Christen konnten andernorts in Europa zu dieser Zeit des so genannten dunklen Mittelalters zu über 95% weder lesen noch schreiben, doch in al-Andalus konnten Christen sogar den Koran lesen. Eine Ironie der europäischen Geistesgeschichte, die bisher nicht genügend Beachtung fand. Nicht jedes muslimische Reich war so beeindruckend, was die Alphabetisierung betrifft. Al-Andalus ragt hervor. Doch ist dies ein Beispiel aus der Geschichte, woraus deutlich wird, dass mangelnde Bildung nicht auf den Koran oder an die angebliche Frömmigkeit eines Muslims zurückzuführen ist, sondern auf die Person selbst, die Umstände, Gesellschaftsschicht oder was auch immer.
Wissensdurst und Tatendrang ist gottgefällig
Sowohl Imam al-Ghazali (gest. 1111) als auch Ibn Ruschd (Averroes) (gest. 1198) betonen, das Nachdenken über Schöpfung und das Wohl des Menschen, sowohl seelisches als auch körperliches, es sei gewichtiger als bloße Andacht. Das Forschen zum Wohl des Menschen ist ein Gottesdienst. Zum Beispiel in der Medizin. Ibn Sina (Avicenna) verrichtete einen Gottesdienst als er den „Kanon der Medizin“ schrieb. Leichen sezieren ist keine Ketzerei für Muslime, wie es im Film „Der Medicus“ dargestellt wurde. In der Darstellung muslimischer Theologie, war dieser Film eine absolute Katastrophe. Zum Wohl der Menschheit zu forschen und zur eingetretenen Zeit das Gebet verrichten, das ist Islam. Der andalusische Theologe Said al-Andalusi (gest. 1070) schreibt in seinem Werk „Tabakatul Umam“ (auf Deutsch, wie so oft, nicht erhältlich, aber auf Englisch): „Was die Völker betrifft, die sich mit den Wissenschaften beschäftigen, dieses sind die von Allah auserwählten Völker. Denn sie haben ihre Anstrengungen dafür aufgewandt, sich Vorzüge anzueignen, die den Menschen zum Menschen machen und die Natur des Menschen stärken.“ Dazu zählt Wissen über die Erde, das Universum und Wissen über Gott und Seine Gesandten. Was hat das mit Erdbeben zu tun?
Suleyman, der Prächtige (gest. 1566) verrichtete einen Gottesdienst beim Bau der Suleymaniye. Er ließ große, schwere Steine in die Baugrube legen, damit der Boden einsackt, bevor die prächtige Moschee gebaut wurde. Er wartete 3 Jahre, bis er den Bau beginnen ließ. Da İstanbul ein Ort ist, der zuzeiten von Erdbeben heimgesucht wird, war dies eine Vorkehrungsmaßnahme. Bis heute zerstörte kein Erdbeben die Suleymaniye. Wenn mit Wissen vorgegangen wird, ist der Lohn bei Allah größer, Ihm, dem Ur-Wissenden, der alle wissenden Menschen liebt und vielfach belohnt, wenn im Sinne des Wissens gehandelt wird. Das ist der Ausdruck des Vertrauens auf Allah, Tawakkul. Nach bestem Wissen und Gewissen und gemäß der eigenen Möglichkeiten vorkehren und sich daraufhin bewusst sein: was nun passiert ist Zu-Fall, d.h. das, was mir von Allah, dem Schicksal, zufällt, von Ihm zugeteilt wird. Wissen muss angewandt werden beim Wiederaufbau der durch dieses Erdbeben verursachten Städte. Das wäre gottgefällig.
Gesundes Gottvertrauen
Krankheit kommt von Allah und Gesundheit. Er ist der Schöpfer aller Dinge. Nichts trifft den Menschen, ohne, dass Er es bestimmt hätte. Das klingt nach Fatalismus, nach Ohnmacht, doch ist es nicht. Scheikh Mewlana Rumi sagt in seinem Mesnewi: „Anstrengung ist kein Kampf mit dem Schicksal, denn das Schicksal hat uns dies auferlegt.“ (Mesnewi, Band 1, Vers 976) Und Scheikh Rumi dichtet: „Was ist diese Welt? Gottvergessen sein.“ (Vers 983) Wohlstand ist für den Muslim nicht der Ausdruck von zu viel Weltlichkeit. Meinen materiellen Wohlstand zum Wohle meiner Mitmenschen einzusetzen, heißt Allah zu dienen. Was nicht verdient wird, kann nicht ausgegeben werden, deshalb ist die Arbeit dafür ein Gottesdienst. Der Muslim, der Arbeiten geht, befindet sich auf dem Wege Allahs. Das ist eine Form des Dschihad. Was dichtete Scheikh Rumi: „Wenn du auf Gott vertraust, vertraue auf die Arbeit; säe, und dann verlasse dich auf den Allmächtigen.“ (Mesnewi, Band 1, Vers 948)
In keiner Phase des prophetischen Lebens sehen wir ein bloßes Verlassen auf die Hilfe Allahs. Ganz im Gegenteil, der Prophet, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, ist nicht passiv. Sein Gottvertrauen drückt sich durch Leisten aus. Erst nachdem er leistet, was es zu leisten gibt, drückt sich sein Gottvertrauen passiv aus. Wenn sich trotz Arbeit nicht das erwünschte Resultat einstellt, so ist das von Gott. Wenn trotz beharrlicher Versuche, ein Mensch nicht geborgen werden kann, so ist das von Gott. Muslime glauben nicht, dass der Tod etwas Böses ist. Der Tod ist die Hochzeitsnacht (Rumi sagt: Schebi Arus), das Zusammentreffen mit Gott, dem Ur-Liebenden. Wer diese vergängliche Welt jedoch stärker liebt als das ewige Jenseits, wird alles als Böse und Schlecht betrachten, was Prüfung oder Misserfolg darstellt.
Islam heißt Eyvallah
Die Türken sind dafür bekannt „Eyvallah“ zu sagen. Als Antwort ist es nahezu passend in allen Situationen. Wenn jemand sich bei einem bedankt, kann man Eyvallah sagen. Wenn man gefragt wird, wie es einem geht etc. Wenn man nicht weiß, was man sagen soll, im Zweifel sagt man Eyvallah. Eyvallah bedeutet: Von Gott. Was auch geschieht, es ist von Gott. Es heißt Danke, Bitte, Gut. Wer bin ich, dass ich klage. Von Gott kommen wir und zu Gott kehren wir zurück. Es ist ein Wort, dass ausdrückt, was Goethe meint, wenn er den Begriff Islam verwendet: „Im Islam leben wir alle, unter welcher Form wir uns auch Mut machen.“ (Brief Goethes an A. Schopenhauer am 19.09.1831) Goethe sagte: Eyvallah!
Sagen nicht die erfolgreichsten Manager, dass die Fähigkeit auf eine Situation angemessen zu reagieren, ausschlaggebend ist. Die Ausgangslage annehmen, bedenken, wohin man möchte und was dafür erforderlich ist, Wissen heranziehen und dann umsetzen. Der Rest obliegt Allah, dem Schicksal. Das ist gottgefällige Lebensart gemäß Koran und Sunna. Zu schreien und zu kreischen in schweren Lebenslagen ist absolut nachvollziehbar und nur ein Unmensch wird andere dafür tadeln, wenn sie es tun, während sie gewaltige Schicksalsschläge erfahren. Aber: die Ruhe zu bewahren, bedacht und achtsam zu handeln, das ist gottgefälliger, das stellt einen Gottesdienst dar. Eltern können kreischen und schreien, wenn ihr Kind, Allah bewahre, einen Tumor hat, der Chirurg legt das Messer an und versucht es zu retten. Islam ist ein Anlegen des Messers. Denn ein Menschenleben zu retten setzt Allah, der Erhabene, im Koran damit gleich, die gesamte Menschheit zu retten. Eltern können kreischen und schreien oder einfach still weinen, wenn sie ihr Kind verlieren, doch sie wissen: Was Allah, das Schicksal, bestimmt. Von Ihm kommen wir, zu Ihm kehren wir zurück. Keine Verzweiflung.
Allahs Liebe
Ein Erdbeben, eine Krankheit, ein Schicksalsschlag sind keine Anzeichen dafür, dass Gott zornig ist. Ganz im Gegenteil. Imam al-Ghazali überliefert die folgende Aussage Allahs: „Wenn Ich einen Menschen liebe, so prüfe Ich ihn mit einer Prüfung, wie die Berge sie nicht aushalten können, um zu sehen, wie es mit seiner Wahrhaftigkeit bestellt ist. Finde Ich ihn tapfer (sabır), so nehme Ich ihn als Vertrauten und Freund an, finde Ich ihn aber verzagt, und beklagt er sich gegen Mich bei Meinen Geschöpfen, so lasse Ich ihn im Stich und kümmere Mich nicht weiter um ihn.“ (Ihya Ulum ad-Din, Buch der Absicht) Wenn Allah teala Großes mit wem vorhat, schickt Er Prüfungen und auch die Kraft, diese Prüfungen zu meistern. Das erinnert mich an Goethe. Bereits im Kindesalter wurde ihm gesagt, dass die Sterne günstig standen bei seiner Geburt. Von Zeit zu Zeit fragte er seine Mutter: „Die Sterne werden mich doch nicht vergessen?“ Um ihrem Kind deutlich zu machen, dass der Beistand der Sterne, d.h. des Schicksals, nicht erzwungen werden kann, sagte sie, dass andere Leute doch auch ohne den Beistand der Sterne auskommen müssen. Darauf antwortete der 7-jährige Goethe: „Mit dem, was anderen Leuten genügt, kann ich mich nicht begnügen.“ (aus: Anekdoten über Goethe und Schiller, Weimarer Verlagsgesellschaft) Daraus lernen wir, auf Prüfungen gefasst zu sein, wenn wir denn Allahs Hilfe empfangen möchten. Er wird helfen, doch Sein Helfen, je höher Er uns im Diesseits und Jenseits erheben möchte, könnte sich auf eine Art und Weise ausdrücken, die uns erschreckt. Vielleicht meinte Rilke das, als er schrieb: „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang… Ein jeder Engel ist schrecklich.“ (Duineser Elegien) Gebe uns Allah, der Allmächtige, den Willen und die Kraft Prüfungen zu bestehen und sie als Mittel zu benutzen, unsere Menschlichkeit zu bilden und auszudrücken. Das ist der wichtigste Sinn des Lebens. In Erfahrung bringen, was wirklich Menschlichkeit ist und sie im Herzen entwickeln. Was im Herzen ist, wird sich in Taten ausdrücken. Doch bloßer Wohlstand auf dieser Welt ist nicht das Anzeichen gewährter göttlicher Liebe. Der Einsatz zur Kultivierung anderer ist ein Anzeichen gewährter göttlicher Liebe.
Spannender Artikel, aber ich möchte hier doch ein bisschen für das Christentum die Lanze brechen.., ich würde nicht darin übereinstimmen, dass die Theodizee Frage grundsätzlich die Barmherzigkeit Gottes anzweifelt. Ganz im Gegenteil stellt sich die Frage / “Problematik” ja erst, weil man auch im Christlichen Gottesbild davon ausgeht, dass Gott GUT und LIEBEND ist. Güte, Liebe, Barmherzigkeit, das sind zentrale Elemente des christlichen Gottesbild. In der Theodizee- Frage würde ich also gar nicht diesen zentralen Unterschied zwischen Christentum und Islam ausmachen. Wenn, dann eher im Gegenteil – die strafende Seite Gottes bzw. Gott als Richter ist in der christlichen Theologie sehr stark der Liebe, Vergebung und Barmherzigkeit untergeordnet.
Eine interessante Empfehlung des Mönchsvaters Benedikt von Nursia finde ich auch: „Das Gute Gott zuschreiben und das Schlechte sich selbst.“
Man muss nicht, aber kann damit vllt. in die Richtung denken, dass Gott nur das Gute für seine Menschheit will und schafft, aber auch uns freien Willen gegeben hat und wir bringen damit oft Schlechtes hervor.
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