Freitagsflügel – 19.06.2020

Mit dem Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen!

„Mein Herr! Weite mir meine Brust und erleichtere mir meine Aufgabe und löse den Knoten meiner Zunge, damit sie meine Rede verstehen mögen.“

Als sein Gefährte, Freund und Partner Friedrich Schiller verstarb, sagte Goethe, dass er einen Freund und in ihm die Hälfte seines Daseins verliere. Der Tod eines Menschen kann eine traumatische Wirkung auf uns Menschen haben. Zu sagen: Allah habe es gewollt und dass Sein Wille nicht kritisiert werden darf, ändert nichts an der Wunde. Diese Wunde muss verpflegt werden. Was verband Goethe mit Schiller? Was hat Goethe in ihm verloren? Darüber gibt er uns im Epilog zu Schillers Glocke Auskunft:

Indessen schritt sein Geist gewaltig fort
Ins Ewige des Wahren, Guten, Schönen,
Und hinter ihm, in wesenlosem Scheine,
Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.

Das Gemeine. Das Durchschnittliche. Fesselt es uns nicht alle? Was ist das Gemeine? Es ist der Wunsch seine persönlichen Interessen dem Schönen vorzuziehen. Wir lieben es recht zu behalten. Wir lieben es gelobt zu werden. Goethe, so Eckermann, war erhaben über Lob und Tadel. Schiller ebenso. Er kritisierte sich am heftigsten selbst… – Im Faust setzt Goethe Schiller ein Denkmal:

„Von Hercules willst nichts erwähnen?“ 
„O weh! errege nicht mein Sehnen…“

In Schiller hatte Goethe einen Freund, der nicht sprach, um recht zu behalten, sondern der am „Wahren, Guten, Schönen“ interessiert war. Wie können wir nur ansatzweise fassen, wie leer er sich gefühlt haben muss, als er Schiller verlor. Während der Epilog zu Schillers Glocke eingeübt wurde, packte Goethe Amilia Wolff, hielt sich die Augen und rief: „Ich kann, ich kann den Menschen nicht vergessen.“ –

Haben auch wir einen solchen Menschen in unserem Leben? Einen Menschen, der uns hilft, zu einer besseren Version von uns selbst zu werden? Einen Menschen, der uns zu dem macht, was wir sind? Haben wir einen Menschen im Leben, der uns das Gefühl gibt, wertvoll zu sein und geliebt zu werden, auch dann, wenn wir das Gefühl haben, es nicht zu sein? Das beste, so Muhammed, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, was einem Menschen nach dem Iman gegeben werden kann, ist ein Freund. Freunde machen das Leben erst erträglich. 

Was ist ein Freund, liebe Freunde? Ein Freund ist der Mensch, der mich in meinem Zorn hält und sagt: Das bist nicht du! Ein Feind, Heuchler und Halunke ist, wer sagt: Jetzt zeigt er sein wahres Gesicht. Ein Freund hilft die Fassung zu bewahren, indem er uns das Schöne bindet: An al-Jameel. Allah, der Schöne, der die Schönheit liebt. Ans Schöne sich zu binden, das ist doch der Sinn des Lebens…

Einen Freund zu haben wie Schems. 
Ich sehne mich nach einem Freund,
Der mich aus meinem Schlaf erweckt,
Der fühlt, was tiefer in mir steckt,
Mir beisteht gegen meinen Feind,
Den Feind im Innern, der mich trübt,
Mich täuscht, indem er blendend spricht,
Vergessen macht das Weltgericht,
Ein Freund, der mich mit Herzen liebt,
Mit Worten – magisch! – motiviert,
Mich auf den Augenblick versiert,
Indem er selbst sein Bestes gibt!
Ich will ihn stärken jeden Tag,
Damit er fühlt, Er wird geliebt;
Ach wen die Liebe treibt, der siegt!
Ich möchte ihm ein Bruder sein,
Mit ihm gemeinsam kämpfend steh’n,
Ihm helfen Unsichtbar’s zu seh’n,
Ihn abhalten vom ird’schen Wein;
Der mir voll Leidenschaft erzählt,
Was ihn bewegt und ihn berührt,
Der ahnt, wohin die Tat ihn führt,
Der selbst-bewusst das Beste wählt!
Ich möchte eilen, wenn er ruft,
Sein Herz auf seine Zunge tut,
Gestärkt ihn stärken mit mehr Mut:
Geliebte werden hochgestuft!
Ich sehne mich nach einem Geist,
Der mich aus Illusionen reißt,
Der mich erfreut, ganz keck und dreist,
Erkennt, was mein Verschweigen heißt,
Der nicht auf meine Worte hört,
Mich demaskiert, auf seine Art,
Der zärtlich spricht, nicht bitter, hart,
Der niemals sagt: »Du hast gestört!«
Ein Freund, der mich willkommen heißt,
Zu jeder Zeit mein Herz empfängt,
Der meine Weltbilder zersprengt,
Indem er mir die Wahrheit preist. –
Verliebte möchten eine Frau;
O Allah! gib mir einen Schems!
Der fühlen lässt die Herzessenz,
Belehrt mit seiner Herzensschau!

Es gibt Menschen, die klagen, dass es solche Freunde nicht mehr gibt. Es sind Menschen, die selbst nicht versuchen solch ein Freund zu sein. Wie viele Menschen kommen durch die Bekanntschaft mit mir dem Schönen näher? Als Muslim glauben wir, dass Muhammed, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, derjenige ist, der uns dem Schönen am nächsten bringt: „Wer im Westen den Islam studiert und an das traditionelle Bild Muhammads gewöhnt ist, wie es sich in Hunderten von Jahren des Hasses und der Feindschaft in der christlichen Welt entwickelt hat, wird erstaunt sein, die starken mystischen Qualitäten zu sehen, die diesem Manne in der Sufi-Tradition zugeschrieben werden […].” (Annemarie Schimmel)

Aus diesem Grund sagte Muhammed, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden: „Keiner wird ein wahrer Gläubiger sein, bis er mich mehr liebt als seine eigenen Eltern, Kinder und alle Menschen.“ (bei Bukhari überliefert) – Das klingt zuerst sehr eigenartig. Warum sagt unser Prophet das? Durch diesen Satz will er jede Form der Selbstgerechtigkeit in uns auslöschen. Am Eingang der Bibliothek der Harvard Law School steht der Koranvers, der uns hilft dieses Hadith besser zu verstehen: „O ihr, die ihr glaubt, steht ein für Gerechtigkeit als Zeugen für Gott, sei es auch gegen euch selbst oder gegen Eltern und Verwandte! Ob einer reich ist oder arm: Gott ist beiden nahe. Folgt nicht einer Neigung, statt gerecht zu sein.“

Diesem Aufruf nachzukommen bedeutet Muhammed, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, mehr zu lieben, als jeden anderen Menschen. Einer der Schlüssel dazu ist es, zu wissen, dass man die Liebe, die man bekommt, nicht verdient. Oscar Wilde sagt seinem Brief De Profundis: „Jeder ist der Liebe würdig, nur der nicht, der sich selbst für würdig hält.“ Was passiert mit jemandem, der sich selbst der Liebe würdig hält? Er fordert sie ein und ist beleidigt, wenn andere ihn nicht lieben, wenn andere ihn kritisieren. Zu wissen, dass wir nur dann der Liebe würdig sind, wenn andere Nachsehen mit uns haben, das macht uns zum Menschen und bildet die Menschlichkeit, die Schönheit und guten Charakter in uns aus. 

Einen Freund zu haben, der uns liebt, nicht weil wir so sind, wie wir sind, sondern trotz dessen, dass wir so sind, wie wir sind, das benötigen wir, um uns dem Schönen anzunähern. Victor Hugo formuliert es wundervoll: „Es gibt nichts Schöneres, als geliebt zu werden, geliebt um seiner selbst willen oder vielmehr: trotz seiner selbst.“

Was lässt sich dem hinzufügen…? Goethe hatte so einen Freund in Schiller und Schiller in Goethe. Mewlana Rumi in Schems und Schems in Mewlana…. möge Allah ihnen barmherzig sein. Ibn Madsche überliefert vom Gesandten der Schönheit, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden:

„Unter den Dienern Allahs gibt es Menschen, die weder Propheten noch Märtyrer sind, doch die Propheten und Märtyrer werden sie am Tag der Auferstehung um ihren Rang bei Allah, dem Erhabenen, beneiden.“ 

Da fragten die Gefährten: „Wer sind diese Leute?“, worauf er sagte: 

„Es sind Leute, die einander um Allahs willen lieben, obgleich sie weder miteinander verwandt sind noch in geschäftlichen Beziehungen zueinander stehen. Und bei Allah: Wahrlich, ihre Gesichter erstrahlen vom Licht und sie sind erfüllt von Licht. Sie fürchten sich nicht, wenn die Menschen sich fürchten, und sie sind nicht betrübt, wenn die Menschen betrübt sind“, und dann rezitierte er den Vers: ‚Siehe, die Vertrauten Allahs überkommt keine Furcht noch werden sie traurig sein!’“ – Dies ist der Rang der Liebenden. Sie lieben und achten und respektieren einander, haben Nachsicht miteinander ohne irgendeine Form der Gegenleistung zu erwarten.

Möge Allah teala uns zu ihnen gehören lassen. Möge Er uns zu den Geliebten gehören lassen, die wissen, dass die Liebe immer ein Akt der Nachsicht ist. Möge Allah teala uns lieben lassen und möge Er uns zu den Nachsichtigen gehören lassen… (Amin)

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